Samstag, 23. September 2006
Impfgegner
Menschen mit einem Hang zum Irrationalen können im Rahmen ihrer Möglichkeiten sehr unterhaltsam sein. Das liegt vor allem daran, dass die meisten der praktizierten Formen der alternativen Realitätswahrnehmung so wenig Schaden anrichten.
Man kann z.B. von Astrologen ansonsten halten was man will, aber ein Horoskop für die Hauskatze ist sicher nicht schädlich und kann daher sogar richtig komisch sein.

Ganz anders sieht die Sache aus, wenn sich Quacksalber in Bereichen der Medizin versuchen, wo es nicht bloß um die Steigerung des Wohlbefindens geht, sondern um handfeste lebensbedrohende Krankheiten. Homöopathen kann ich an guten Tagen auch mal tolerieren, solange sie sich auf ihre ausgewiesenen Fachgebiete (leichte Erkältung, generelles Unwohlsein, Eifersucht bei jungen Mädchen) beschränken. Bei Malaria-Prophylaxe hört der Spass aber auf, dafür gehören die verantwortlichen Zuckerkugelverschieber meiner Meinung nach hinter Gittern.

In der "Alternativen Medizin" und Anthroposophie gehört es zum guten Ton, dem Nutzen von Impfungen generell speptisch gegenüberzustehen. Was dann manchmal dazu führt, dass Masern-Epedemien von anthroposophischen Kindergärten und -Schulen ausgehen. Hinter der "Impfmüdigkeit" der Deutschen steckt heute eine weit verbreitete Mundpropaganda, die z.B. die für Erwachsene oft lebensbedrohlichen und schmerzhaften "Kinderkrankheiten" systematisch verharmlosen und die Erfolge des Impfens stur leugnen.

Ein Beispiel für dieses Vorgehen ist das Naturheilzentrum Alstertal, dessen nicht unsympathisch wirkende Belegschaft auf ihrer Impf-Informationsseite ein Feuerwerk aus bewussten Fehlinformationen abfeuert:

Für die Wirksamkeit von Impfungen fehlt bisher jeglicher wissenschaftlicher Nachweis. Impfungen bieten keinen sicheren Schutz. Der Begriff Impfschutz ist daher irreführend.

Die Pocken wurden dank der Impfungen ausgerottet und Kinderlähmung ist weltweit zu einer sehr seltenen Erscheinung geworden. Welche wissenschaftlichen Beweise sollen da noch fehlen?

Um die Notwendigkeit von Impfungen argumentativ zu untergraben wird eine bemerkenswerte Tabelle produziert. Diese gibt u.a. an:

- von 1990 bis 1999 gab es nie mehr als vier Polio-Fälle pro Jahr
- diese Fälle seien seit 1991 ausschließlich durch die Impfung entstanden
- die Impfrate bei Polio liegt bei 29,4%

Die Kinderlähmung (Polio) ist also offenbar so selten, dass man sich nicht dagegen impfen muss. Zudem lösen die Impfungen trotz der niedrigen Impfrate die Krankheit praktisch ausschließlich aus.

Die Tabelle ist deshalb so bemerkenswert, weil sie in Richtung des gewünschten Ergebnisses manipuliert wurde. So stammen die Zahlen der Polio-Erkrankungen vom Robert Koch Institut (RKI), die Impfrate dagegen aus der "Praxis-Depesche 20/1999" (mir nicht zugänglich). Die genannte Impfrate von 29,4% ist aber falsch, laut Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 2004; 47: 1144–1150 und RKI liegt die Zahl immer noch bei weit über 90%. Wieso werden wohl die Erkrankungsfälle aus einer Quelle entnommen, die Impfrate dagegen aus einer völlig anderen, die eine viel zu niedrige Quote angibt?

Interessant ist auch der gewählte Zeitraum: von 1990 bis 1999. Nach 1998 wurde nämlich bei Polio auf einen langsamer wirkenden Impfstoff umgestellt, um die durch Impfungen ausgelösten Krankheitsfälle zu unterbinden - der Einsatz dieses Impfstoffes ist nur möglich, weil durch die hohe Impfrate die akute Ansteckungswahrscheinlichkeit gering ist. Seit dem Jahr 2000 gibt es keine Polio-Neuinfektionen durch Impfungen in Deutschland!

Für den Nachweis der Wirksamkeit von Polio-Schluckimpfung hätte übrigens ein Blick auf die Zahlen genügt, als die Schluckimpfung eingeführt wurde - in den 60er Jahren:

Bereits 1965 – d. h. nur 4 Jahre nach Beginn der ersten Impfkampagnen – hatte sich die Zahl der im Bundesgebiet erfassten Erkrankungen auf weniger als 50 Neuerkrankungen reduziert, im Vergleich zu den 4.670 gemeldeten Neuerkrankungen im Jahr 1961 war das ein Rückgang um 99%. Diese günstige Situation blieb dank der weiterhin hohen Impfraten von über 90% bei den Kindern bis heute erhalten. Die letzten beiden einheimischen (autochthonen) Erkrankungen durch Polio-Wildviren traten in Deutschland in den Jahren 1986 und 1990 auf, die letzten importierten Fälle wurden 1992 erfasst.

Nach 1991 kam es jedoch weiterhin zu Einzelfällen paralytischer Poliomyelitis-Erkrankungen, die durch das Impfvirus verursacht wurden, sog. Vakzine-assoziierte paralytische Poliomyelitis (VAPP). Die letzten beiden typischen Erkrankungen dieser Art in Deutschland wurden 1998 erfasst. Die 1998 erfolgte Umstellung von der oralen Impfung mit Lebendimpfstoff (OPV) zur intramuskulären Impfung mit einem inaktivierten Impfstoff (IPV) bietet die Gewähr, dass die früher zwar selten, aber regelmäßig auftretende VAPP künftig nicht mehr vorkommt.

(Quelle: RKI)

Auch die Impfraten der anderen infektiösen Krankheiten sind offenbar inkorrekt, Vergleichsdaten aus der Zeit vor den Impfungen fehlen.

Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass der oder die Autoren dieser "Informationsseite" die Daten und Aussagen nicht absichtlich wie oben angegeben leicht in die weltanschaulich genehme Richtung verschoben haben. Die Daten des RKI sind frei zugänglich, alle Daten, die die positiven Effekte von Impfungen zeigen, wurden jedoch nicht genannt, ebensowenig die weltweiten Daten zu Polio, die ausserhalb der Industrieländer leider keine ausgerottete Krankheit ist. Die Aussage, dass es keinen wissenschaftlichen Nachweis zur Wirkung von Impfungen gibt, ist absurd.

Die Damen und Herren Naturheiler lassen es sich nicht nehmen, jedem Impf-Interessierten möglichst viel Angst zu machen und zu verunsichern (Nebenwirkungen! Risiko! Lassen sie sich bescheinigen, dass sie gesund sind! Buuuuuuuuuhuuuuu!). Und zum Abschluss:

Die Entscheidung für oder gegen Impfungen muss jeder für sich oder sein Kind selber treffen – informieren Sie sich.

Na danke schön, von Euch bekommt man ja offensichtlich ganz objektive Beratung. Man kann ruhig mal sagen, dass Impfungen keinen 100%igen Schutz bieten, aber es ist unsozial, für sich selbst den Schutz einer hohen Impfrate in der Bevölkerung in Anspruch zu nehmen, dann aber seine eigenen Kinder vom Impfen auszunehmen. Nicht alle Erwachsenen können sich aufgrund gesundheitlicher Beschränkungen z.B. selbst gegen Masern impfen lassen und diese Menschen werden durch konsequente Impfungen im Rest der Bevölkerung vor der für sie gefährlichen Ansteckungen geschützt.

Die Polio könnte längst wie die Pocken ausgerottet sein, wenn wir weltweit eine ausreichend hohe Impfrate hätten - die WHO hatte die Ausrottung für 1995 als Ziel gesetzt. Ich würde diese Impf-Egoisten gerne mal in die Gebiete der Welt schicken, wo sie sich vor Ort über die Wirkung der Kinderlähmung schlau machen können.

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